Ludwig von Otting, 1949 in München geboren, absolvierte beide juristischen Staatsexamen an der Universität Hamburg. Nachdem er bis 1985 am Schauspiel Köln tätig war, wechselte er zum Thalia Theater. Dort arbeitete er von 1985 bis 1991 als Künstlerischer Betriebsdirektor und von 1991 bis zum vergangenen Jahr als Kaufmännischer Geschäftsführer.
Herr von Otting trug maßgeblich zu einem regen Austausch zwischen dem Thalia Theater und chinesischen Theaterensembles bei, infolgedessen die Etablierung chinesischer Gastspiele bei den alljährlichen Lessingtagen gelingen konnte.

 

Interview mit Herr von Otting am 10.01.2015

 

Was ist Ihre persönliche Verbindung zur chinesischen Theaterszene und zu China?
Wie kam es zur Einladung der ersten chinesischen Gastspiele ans Thalia Theater?


Zunächst berichtete Herrn von Otting uns von seiner persönlichen Faszination für chinesische Kunst und chinesisches Theater. Da Gastspiele aus solch fernen Ländern immer eine besondere „Trophäe“ und schwer zu ermöglichen sind, war er froh um die Beziehungen, die sich ab 1988 ergaben, als Lin Zhaohua das Stück Yeti, der wilde Mann am Thalia Theater inszenierte. Das Stück war leider, wie Herr Otting erzählte, ein „Flop“, bildete jedoch den Ausgangspunkt für den Kontakt zu China.
1998 gastierte das Thalia Theater zum ersten Mal in Hongkong mit dem Musical The Black Rider.
Jahre später gelang es über das Goethe-Institut einen Austausch mit Lin Zhaohua zu organisieren. 2010 gastierte das Thalia Theater am Shanghai Dramatic Arts Center mit Caligula und im selben Jahr mit  Hamlet am Beijing People’s Art Theater. 2011 trat das Thalia Theater mit Draußen vor der Tür beim Lin Zhaohua Theatre Festival wieder im Beijing People’s Art Theatre auf.

Auch China gastierte am Thalia Theater. Bei den Lessingtagen 2011 zeigte Lin Zhaohua das Stück Der Unterhändler. Bei den Lessingtagen 2013 erschien er erneut mit Der Attentäter. Meng Jinghuis Inszenierung von Leben!, die im Folgejahr gezeigt wurde, beschrieb Herr von Otting als eindrucksvolle Romanadaption, in der das Schicksal Chinas im 20. Jahrhundert auf ein paar persönliche Schicksale fokussiert wird.

Das Thalia Theater, so Herr von Otting, sei sehr stolz auf die Kontakte, die es zu China pflegt.

 

Wie erfolgt die Auswahl eines Gastspieles für die Lessingtage?  Was erhofft man sich von der Einladung eines chinesischen Gastspiels?


Für die Auswahl eines Gastspiels müssen zunächst einmal praktische Fragen geklärt werden: Welche Schauspieler sind zum geforderten Termin verfügbar? Ist das Stück im Ausland umsetzbar? Welche Bühnenbilder sind  transportierbar? Zudem sollte das Stück, da die Lessingtage ein thematisches Festival sind, zum entsprechenden Themenfeld passen. Anlässlich der Lessingtage 2011 zum Beispiel war es Lin Zhaohua, der Der Unterhändler vorschlug. Das Stück wurde eigens für die Lessingtage inszeniert und war laut Herrn von Otting „fulminant“. Bei der Auswahl von Leben! für die Lessingtage 2014 war es möglich, ein Video der Inszenierung zu sehen, und es war schnell klar, dass das Stück gut zu den Lessingtagen passen würde. Hat man sich dann auf ein Stück geeinigt, folgen trotzdem noch lange Verhandlungen etwa über Geld oder Unterkünfte (scherzhaft: Was ist in der Minibar?), ehe das Projekt gestartet werden kann.

Durch die weite Entfernung ist es ökonomisch nicht sinnvoll und auch nicht möglich, für die Auswahl eines Gastspiels verschiedene Stücke vor Ort anzuschauen. Daher ist man auf Tipps, beispielsweise vom Goethe-Institut, zu guten Regisseuren angewiesen.
Am Besten sei es, so Herr von Otting, wenn man mit ausländischen Regisseuren bereits Erfahrungen sammeln konnte, wie es mit Lin Zhaohua der Fall war. Auch Meng Jinghui wurde für die Lessingtage 2015 erneut eingeladen, da man sich 2014 bereits ein Bild von seiner guten Arbeit machen konnte.
Auch wenn Gastspiele immer ein gewisses Risiko in sich bergen und Herr von Otting zum Beispiel vor der Aufführung von Der Unterhändler nicht ganz angstfrei war, so kann er im Nachhinein sagen, dass Der Unterhändler und Leben! unerwartet sogar zu den Highlights der jeweiligen Lessingtage wurden.

Von chinesischen Gastspielen, erzählte uns Herr von Otting, erhoffe er sich das, was man von Gastspielen maximal erwarten könne: Völkerverständigung und den Einblick in andere Kulturen.
Für die Zukunft wünsche er sich, dass auch einmal chinesische Stücke in Hamburg gezeigt würden, die stärker mit klassischen chinesischen Theatermitteln arbeiten. Bisher waren am Thalia Theater vor allem solche Stücke zu sehen, die vorrangig mit den Mitteln des ursprünglich westlichen „Sprechtheaters“ arbeiten.

 

Wie groß ist das finanzielle Risiko bei der Einladung eines chinesischen Stücks? Gab es Bedenken von deutscher Seite? Welche Förderungen und Zuschüsse werden für Gastspiele in Anspruch genommen?


Herr von Otting hofft, dass auch weiterhin chinesische Gastspiele an das Thalia Theater geholt werden, auch wenn dies ein organisatorischer Akt und zudem ungeheuer kostspielig ist. Das komplette Ensemble muss eingeflogen, untergebracht und betreut werden. Das Bühnenbild muss in Schiffscontainern geliefert werden und Verständigungsprobleme müssen durch Einsatz von Dolmetschern gelöst werden.
Herr von Otting sagte, Gastspiele seien ökonomisch kompletter Wahnsinn und finanziell eigentlich nicht plausibel. Unsere Frage, ob es insgesamt kontroverser sei, ein chinesisches Stück einzuladen als beispielsweise ein europäisches, verneinte er. Die Bedenken seien da nicht größer als bei jedem anderen Gastspiel auch. Die Risiken seien immer die gleichen: Man frage sich, ob das Interesse beim Publikum geweckt werden und ob das Geld wieder eingespielt werden könne.
Trotz allem sei die kulturelle Erfahrung den Aufwand wert. Es handele sich dabei immer wieder um eine Erfahrung von „Culture-Clash“, die er nicht missen wolle. Bei den Lessingtagen der vergangenen Jahre seien die chinesischen Gastspiele immer der absolute Höhepunkt gewesen, was auch Stargästen wie Pu Cunxin zu verdanken war.
Wenn von chinesischer Seite aus Gastspiele nach Deutschland geschickt werden, so geschieht dies größtenteils auf chinesische Staatskosten. Gastspiele des Thalia Theaters in China können vom Goethe-Institut, der Senatskanzlei oder verschiedenen Stiftungen gesponsert werden. Dabei sind Verbindungen, wie sie Hamburg als Partnerstadt mit Shanghai pflegt, sehr nützlich.

 

Wie überzeuge ich ein deutsches Publikum chinesisches Theater zu sehen? Wie wurden die Stücke des Thalia Theaters in China aufgenommen?


Der Rahmen eines Festivals wie die Lessingtage, das den Theaterstücken auch gleichzeitig einen Event-Charakter verleiht, ist sehr geeignet um dem deutschen Publikum ein chinesisches Theaterstück näherzubringen. Die Theaterstücke werden nur ein, zwei Mal gezeigt und sind somit schneller ausverkauft. Auffällig war jedoch bisher auch, dass immer eine große chinesische Gemeinde anzutreffen ist, wenn chinesische Stücke in Deutschland gezeigt wurden.
Nach Herr von Ottings Einschätzung lässt sich eine chinesische Theaterproduktion nur schwer in den Theateralltag integrieren. Das Interesse im normalen Repertoire-Betrieb ist beim deutschen Publikum zur Zeit kaum zu entfachen.
Auch in China haben die Gastspiele des Thalia Theaters Anlaufzeit gebraucht. Das Thalia Theater hat in China einen guten Namen, trotzdem waren die ersten Vorstellungen, etwa von Caligula oder Hamlet, zunächst spärlich besucht. Aber schon bei der zweiten Aufführung waren die Stücke, wohl dank Mundpropaganda, stark besucht. Auffällig war, dass sehr viele Theaterleute die Aufführungen in China besucht haben, sodass auch die Publikumsgespräche von kundigen Leuten geführt wurden und sehr anregend waren. Nicht nur theatralische Aspekte wurden diskutiert, sondern auch politische und soziale.
Die Sprache des Theaters ist wohl am Ende in jedem Land die gleiche. Wenn Theater einen Sinn hat, so Herr von Otting, dann den, dass bestimmte Ideen als Avantgarde ins Volk getragen werden. Diese Ideen sollen von Intellektuellen wahrgenommen und in der Presse vervielfältigt werden. Er möchte daran glauben, dass die Gastspiele des Thalia Theaters auch den Menschen dort weitergeholfen haben. Gegenseitige Inspiration ist dabei eine unbedingte Folge. So übernahm Lin Zhaohua beispielsweise Elemente eines Bühnenbilds des Thalia Theaters in eines seiner eigenen Theaterstücke.

 

Wie ist die Situation eines chinesischen Ensembles am deutschen Theater? Gab es Verständigungsprobleme oder Koordinationsprobleme?


Gastspiele durchzuführen braucht viel Improvisationstalent. Man muss sich aufeinander einlassen. Gravierende Koordinationsprobleme konnte Herr Otting jedoch keine nennen. Er erzählt eine kleine Anekdote, nach der in einem Jahr die chinesische Seite darauf beharrte, drei statt zwei Tage Zeit für die Aufbauarbeiten zu bekommen. Doch schon nach einem Nachmittag waren die Aufbauarbeiten abgeschlossen. Hier zeigt sich ein Unterschied in der Arbeitsweise, aber auch die zuverlässige Arbeit der gastierenden chinesischen Ensembles war sehr hilfreich. Um Verständigungsprobleme aus dem Weg zu schaffen wurden Dolmetscher eingesetzt. Zudem muss das gastierende Ensemble gut untergebracht und rund um die Uhr betreut werden.
Vor allem hat Herr von Otting die fast rituellen Freundschaftsfeiern genossen, die während der Zeit, in der das chinesische Ensemble am Thalia Theater zu Gast war, stattgefunden haben. Für Herrn von Otting ergab sich beispielsweise mit Pu Cunxin eine „innige Umarmungsfreundschaft“. Am Ende hilft die gemeinsame Liebe zum Theater über alle Verständigungsprobleme hinweg. „Das Wichtigste ist, dass man sich hinterher in die Arme fällt und erkennt, dass man an der gleichen Sache arbeitet“, so Herr von Otting.

 

In welcher institutionellen Verfasstheit befindet sich das chinesische Theater? Was kann die deutsche Theaterwelt von China lernen oder umgekehrt?


Die chinesische Theaterkultur hat ihren ganz eigenen Kreislauf. Das mag daran liegen, dass chinesische Regisseure mit ihren Schauspielern anders arbeiten, dass die Schauspieler eine andere Art der Ausbildung erfahren haben.
Die Standards in China und Deutschland lassen sich nicht vergleichen. Das deutsche Theater ist mit großer finanzieller Unterstützung gesegnet, und die technischen und personellen Standards sind in Deutschland so hoch  wie in kaum einem anderen Land. Dennoch spürt Herr von Otting, wenn er in China ist, dass er es mit einer selbstbewussten Kultur zu tun hat, die der unseren in nichts nachsteht. Davon kann und hat sich auch das deutsche Theater inspirieren lassen. Schon Brecht hat das getan.
Herr von Otting hat ganz unterschiedliche Erfahrungen mit theatralischen Herangehensweisen in China gesammelt: von wüsten Proben in Shanghai, die für das deutsche Empfinden voller Lärm und Unkonzentriertheit waren, bis hin zu beeindruckender Professionalität. Besonders fasziniert war Herr von Otting von der inneren Ruhe und formalen Arbeitsweise, mit welcher die chinesischen Theaterensembles an die Stücke herangegangen sind. Improvisation spielt hier weniger eine Rolle, vielmehr geht von den Schauspielern eine ungeheure, spannungsgeladene Konzentration während der Auftritte aus. Vor allem mit Lin Zhaohua hat Herr von Otting sehr gute Erfahrungen sammeln dürfen.

Die chinesischen Theaterinstitutionen beschrieb Herr von Otting als System, dass er en detail nicht durchschaue. Es handelt sich um eine sehr geheimnisvollen Apparat, bei dem der Staat jedoch in jedem Falle eine große Rolle spielt: Staatliche Unterstützung ist sehr wichtig. Herr von Otting hat festgestellt, dass an manchen Stellen Vorsicht geboten ist. Man musste sich bei der eigenen Darstellungsweise auf Kompromisse einlassen, als etwa bei der Aufführung von Hamlet im Jahr 2010 das Ensemble aufgefordert wurde, Nacktheit der Schauspieler zu unterlassen. Um einem Konflikt aus dem Weg zu gehen, trug Hamlet am Ende eine Unterhose.
Herr von Otting hat beobachten können, wie in den letzten Jahren in China riesige Theaterbauten errichtet wurden – Gebäude, die die Theatergemeinde vor Ort kaum mit Inhalten füllen kann. Sie zeigen ein enormes Repräsentationsbedürfnis und auch die Missverhältnisse, die zwischen riesigen Theatern und den Produktionsmitteln von Kleinbühnen herrschen.

 

Können Sie uns noch etwas zu den Lessingtagen erzählen? Welche Rolle spielen die Themen der Lessingtage? Können Sie bereits eine Einschätzung zu dem diesjährigen Gastspiel geben?


Die Rezeptionsbereitschaft des Theaterpublikums hat sich in den letzten 30 Jahren stark verändert. Der Eventcharakter ist immer wichtiger geworden, während die normale Abonnement-Strategie nach allgemeiner Auffassung nicht mehr ausreicht, um das Publikum zu faszinieren und zu halten. Deswegen sucht man laufend besondere Ereignisse. Festivals sind dabei das Mittel der Wahl geworden. Es stellen sich Fragen wie: Was für ein Festival macht man, wie groß soll es sein und wie  viel Geld soll investiert werden?
Die Idee, die Lessingtage als Themenfestival zu inszenieren, stammt von Joachim Lux.
Die Lessingtage haben einen völkerverständigen, aufklärerischen Ansatz. Dabei ist der ästhetische Aspekt nicht das Wichtigste. Die Auswahl der Stücke erfolgt nicht allein unter ästhetischen Aspekten, vielmehr geht es auch um das Entdecken neuer Kulturen im Theater. China passt in dieses Konzept gut hinein, und die Themen der bisherigen Stücke hatten immer einen aktuellen Bezug zu den Themen der Lessingtage. Es handelte sich um  exotische, wirklich gute Aufführungen. Natürlich ist ein thematisches Festival auch immer ein Wagnis. Wie sichBernstein in den diesjährigen Themenkomplex einfügen wird, wird sich zeigen. Aber am Ende ergibt sich durch das Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen, so Herr von Otting, immer ein Kaleidoskop, das zum Staunen und Nachdenken anregt.
Eine Einschätzung zu Bernstein konnte Herr von Otting noch nicht abgeben, jedoch hat er das Stück des letzten Jahres, Leben!, noch in sehr intensiver Erinnerung und ist somit gespannt, eine weitere Arbeit Meng Jinghuis zu sehen.

 


Die Interviewfragen wurden von der Gruppe erarbeitet.

Zusammenfassung des Interviews:

Marie Schierhorn